Auswärtsspiel im Überwachungsstaat

Auswärtsspiel. Der Wecker klingelt. Du musst früh raus. Bevor die Fahrt beginnen kann, kochst du dir noch einen Kaffee und trinkst ihn aus deiner Lieblingstasse mit der Kogge. Auf der Tasse hast du zwei scharf konturierte und vollständige Fingerabdrücke hinterlassen, wie die in deinem Reisepass. Oder in den Datenbanken der schwedischen Grenzbehörde, seit deiner letzten Groundhopping-Tour nach Stockholm.
Wie jeden Morgen rufst du beim Kaffeeschlürfen deine E-Mails ab. Die sind schon überprüft worden – nicht nur von deinem Virenscanner. Bis deine Kumpel dich abholen, hast du noch ein paar Minuten Zeit. Du rufst einige Web-Seiten auf – die Kripo weiß welche, wenn sie möchte und kann dies auch in sechs Monaten noch überprüfen. Du nimmst schnell noch eine Überweisung vor, die dir gerade eingefallen ist. Die zuständigen Behörden wissen an wen. Zum Glück heißt du Müller, das schützt dich ein wenig. Bei deinem Kollegen, der neulich bei einem Konzert dieser ominösen Band war, verschickt der Computer gerade den gesamten Inhalt der Festplatte an den Verfassungsschutz. Er hatte die Karte online bestellt – selbst schuld.
Es klingelt an der Tür, deine Leute sind da. An allen Ausfahrtstraßen der Stadt stehen Polizeibeamte und notieren die Nummernschilder jedes PKW, der vermutlich zum Spiel fährt. Suchraster: Kleinwagen mit überwiegend männlicher Besatzung zu früher Stunde, offensichtlich noch nicht betrunken (um Partytouristen auszuschließen). Am Spielort angekommen, fahrt ihr noch einige Stationen mit der U-Bahn zum Stadion. Selbstverständlich werdet ihr beim Betreten der Station gefilmt. Auch beim Abstecher in das Einkaufzentrum in der Nähe des Stadions, hat euch eine Kamera genau im Visier. Hast du schon mal versucht vor einer Überwachungskamera unschuldig zu wirken? Das ist noch schwieriger, als auf einem gestellten Foto natürlich zu lächeln. Warum wandert dein Blick ständig nach oben? Zweimal hast du direkt in die Kamera geschaut. Und jetzt greifst du schon wieder in deinen Rucksack, um für deinen Kumpel noch ein Bier herauszuangeln. Passiert das noch einmal, löst die biometrische Verhaltensanalyse den Alarm aus. Deine Nervosität vor dem wichtigen Spiel scheint dem Kameraauge verdächtig.
Laut deiner Patientenkarte bekommst du seit neuestem Beruhigungsmittel verschrieben. Und die Paybackkarte verzeichnet einen hohen Alkoholkonsum. Du hast am Bankautomaten wieder 1000 Euro abgehoben. Wozu brauchst du so viel Bargeld? Außerdem ist dein Stromverbrauch im letzten Monat um 12,8 % gestiegen. Versteckst du jemanden? In der Stadtbibliothek leihst du dir in letzter Zeit merkwürdige Bücher aus, über die Anfänge der Ultrabewegung in Italien und den sogenannten „Deutschen Herbst“. Warum bist du vorgestern Nacht eigentlich so lange um den Block gelaufen? Du hattest dein Handy nicht ausgeschaltet – da weiß man genau wo du bist. Dein Navigationssystem hat bereits jeden Abstecher deiner Auswärtstour aufgezeichnet.
Du fragst dich bestimmt, warum dir so hartnäckig aufgelauert wird. Warum gerade dir? Es gibt doch keinen Grund, aus dem sich irgendjemand für dich interessieren könnte.
Bist du sicher?
Bist du absolut sicher?
Hast du nicht 2007 gegen den G-8-Gipfel demonstriert? Dann verfügt die Polizei sogar über deine Geruchsprobe. Hast du nicht bis vor kurzem in jenem Plattenbau gewohnt, in dem dieser gesuchte Mörder untergekommen war? Das warst gar nicht du, das muss ein anderer Müller gewesen sein? Na, wenn man so heißt, liegt eine Verwechslung nahe. Selber Schuld. Und wie steht es mit deiner Freundin? Die kauft jede Menge Haarfärbemittel, Fleckenlöser und Batterien. Das bedeutet: Wasserstoffperoxid, Azeton und Schwefelsäure! Hältst du uns für blöd? Daraus kann jeder Idiot eine Bombe bauen. Natürlich behauptest du, deine Lebensgefährtin hätte nicht vor eine Bombe zu bauen. Das würde jeder antworten. Solltest du allerdings die Wahrheit sagen – wo liegt dann das Problem? Wir helfen dir doch nur diesen leidigen Verdacht aus der Welt zu schaffen, indem wir genau hinschauen. Das muss doch auch für dich eine Erleichterung sein. Kein Grund zur Beunruhigung. Alles geschieht zu deinem Besten. Der Staat passt auf dich auf. Der Staat ist dein Vater und Beschützer. Er muss wissen, was seine Kinder treiben. Wenn du nichts Schlimmes verbirgst, hast du auch nichts zu befürchten. Die Entscheidung aber, was schlimm ist, überlasse bitte den Spezialisten. Bedenke, dass du dich verdächtig machst, wenn du nicht alles offenlegst. Wenn du mitspielst, musst du keine Angst haben. Wir sind nicht die Stasi oder die Gestapo. Du lebst in einer gesunden Demokratie. Da kann man schon ein bisschen Vertrauen von dir erwarten.
Was? Der Staat soll dir vertrauen? Schon das Grundgesetz sagt, dass alle Gewalt vom Volke ausgeht. Und Gewalt gilt es einzudämmen. Zumal du doch Fan dieses wegen seiner schlimmen Hooligans verrufenen Fußballvereins bist. Das sieht der Innenminister nicht gern.

-Paranoia Ende-

Dies ist keine Science-Fiction. Dies ist nicht George Orwells 1984. Dies ist unsere Bundesrepublik Deutschland 2014. Falls du dich immer noch nicht verdächtig fühlst, herzlichen Glückwunsch. Du bist ein unbeugsamer Optimist. Wollen wir hoffen, dass du nicht soeben durch den Besuch dieser Internet-Seite zu einem verdächtigen Optimisten geworden bist.

„(Frei nach Ilija Trojanow/Juli Zeh: Angriff auf die Freiheit – Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte. München 2009.)“