Freispruch statt Bewährungsstrafe – Langer Atem zahlt sich aus

Hallo Hansafans,

einige Zeit ist es her: Im Oktober 2013 kam es nach dem Heimspiel gegen Chemie Halle zu nennenswerten Auseinandersetzungen zwischen Hansafans und der Polizei. Die Ermittler zerrten im Nachgang etliche Hansafans – ob sie damals gekesselt und aufgeschrieben wurden oder nicht – vor den vielzitierten Qādī. Unter den Fans, die zuerst eine Anzeige und später die Anklageschrift zugestellt bekamen, war auch unser Mitglied Mirko Muräne (Name geändert). Er wandte sich an die Blau-Weiß-Rote Hilfe und betraute einen regelmäßig mit uns zusammenarbeitenden Anwalt mit seiner Vertretung. Bei der Verhandlung im Spätsommer 2014 vor dem Rostocker Amtsgericht setzte es – wie bei den meisten Verfahren im Zusammenhang mit diesem Spiel – in erster Instanz einen Schuldspruch, der bereits zu Verhandlungsbeginn vom Vorsitzenden Richter angekündigt worden war. Der schwere Landfriedensbruch in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung wurde unserem Mitglied „nachgewiesen“, indem die geladenen Polizeibeamten im Zeugenstand diverse Videosequenzen und vergrößerte Screenshots in Zusammenhang brachten.

Ausgiebig waren verschiedene Videos und Standbilder in Augenschein genommen worden, die eine Person bei der vorgeworfenen Tat (Flaschen- und Bengalowurf auf Polizisten) zeigen. Die mehr oder weniger sichtbaren Bekleidungsmerkmale wurden als eindeutig dargestellt: Eine vermummte Person trägt eine olivfarbene Hose mit Beintaschen, Turnschuhe mit weißen Applikationen, aus denen einige Zeugen ein „N“ machten sowie eine schwarze Jacke unter deren Kapuze man einen schmalen Teil einer grauen Mütze erkannt haben möchte. An Verwacklungen bei den Videoaufnahmen, mangelnder Schärfe der ausgeschnittenen und vergrößerten Standbilder oder den nicht optimalen Lichtverhältnissen störte man sich nicht.

Diese Merkmale wollte man später bei einer Person wiederentdeckt haben, die vor dem Fanhaus stehend und unvermummt das Geschehen um die Einkesselung verfolgte. Zufällig war sie in einem Kameraschwenk aufgenommen worden und nur ein einziger Screenshot zeigt diese Person, bei der es sich um Mirko handeln sollte. Hose, Schuhe mit dem Markenlabel „N“ und Mütze sehen auf dem Bild den vorher genannten Merkmalen recht ähnlich. Wo allerdings die schwarze Jacke abgeblieben war, die der Täter trug, oder wo der dicke, wollene Hansaschal herkam, den der Täter eben nicht trug, bedurfte keiner Erklärung. Die offensichtlichen Zweifel, die die Verteidigung in Bezug auf das Bildmaterial anführte, waren vergebens. Auch die Überlegung, dass man eine olivfarbene Hose und zweifarbige Turnschuhe mit dem Label „N“ bei einem gut besuchten Fußballspiel Hansa Rostocks nicht als Bekleidung mit ausreichendem Wiedererkennungswert darstellen könne und dass der Angeklagte am fraglichen Tage nicht unter den Eingekesselten war oder anderweitig aufgeschrieben wurde, konnte das Bild nicht erschüttern, welches sich Gericht, Staatsanwalt und Zeugenstand gemeinsam schufen. Es stand eine zehnmonatige Freiheitsstrafe zu Buche, die zu zwei Jahren Bewährung ausgesetzt wurde. Zudem wurde eine Auflage zur Zahlung von 400 Euro verhängt.

Mirko und sein Verteidiger legten Berufung ein, da Mirko sich keiner Schuld bewusst war und sie aufgrund der Art und Weise erhebliche Zweifel an der Fairness und Rechtmäßigkeit der Verurteilung hatten. Überdies sahen sie durchaus Erfolgsaussichten, in einem alle be- und entlastenden Umstände berücksichtigenden sowie unvoreingenommenen Prozess, Mirkos Unschuld doch noch beweisen zu können.

Die Berufungsverhandlung begann im vergangenen März. 18 Monate lagen dazwischen, in denen sich unser Mitglied wie auf Bewährung fühlte. Da er sich die Fahrten zu den Spielen unseres Vereins nicht nehmen lassen wollte, obwohl wir alle um die schnell auftretenden Probleme mit den Einsatzkräften an Fußballstandorten wissen, konnte man von einer gewissen Belastung unseres Mitglieds sprechen. Mit einer entsprechenden Erwartung der baldigen Klärung der Sache ging es in die nächste Runde.

Vor dem Rostocker Landgericht war die Richtung des Verfahrens erneut schnell erkennbar. Wieder stellten die Zeugen die Aufnahmen als eindeutig dar. Hinzu kam ein diesmal vorgeladener Zeuge, der zum fraglichen Zeitpunkt noch SKB war. Obwohl er um ein entsprechendes Wissen verfügen müsste, versuchte auch er sich lange Zeit um die Bestätigung herumzuwinden, dass allein schon die Südtribüne unseres Ostseestadions an jenem Tag überdurchschnittlich zahlreich besucht war, das Fanhaus ein stark frequentierter Anlaufpunkt für alle Fans nach dem Spiel ist, Art und Weise der fraglichen Schuhe und Hose nicht allzu selten sind und es zudem regelmäßig zu Klamottenwechseln unter den Fans kommt. Obwohl der Vorsitzende Richter etwas mehr Distanz und Seriosität vermittelte, schien die Gefahr einer Bestätigung des Urteils erheblich. Wie der Staatsanwalt in der ein oder anderen Verhandlungspause erkennen ließ, hielt er den Angeklagten für schuldig und Hansafans per se als problematisch. Die in dieser Instanz beteiligten Schöffen offenbarten zwar zum Teil die Perspektive der eventuellen zeitlichen Unschlüssigkeit der vorgelegten Aufnahmen, doch die Verteidigung hielt es angesichts der offensichtlich herrschenden Ignoranz gegenüber der Schuldzweifel für angebracht, zwei weitere Beweisanträge zu stellen. Die Erstellung eines Textil- und eines morphologischen Gutachtens wurden beantragt. Da die Zeit an jenem ersten Tag der Berufungsverhandlung bereits recht weit fortgeschritten war, konnte der Vorsitzende Richter über die Annahme der Anträge nicht mehr am gleichen Tag entscheiden, sodass ein nächster Termin anstand. Hätte man weniger Zeit mit der Suche nach den richtigen Videosequenzen und -dateien in den digitalen Beweisordnern verbracht oder besser gesagt: wäre man besser vorbereitet oder zumindest in der Lage gewesen, mehrere aufeinander folgende und eigentlich logische Mausklicks sinnhaft zu gestalten, wären eventuell mehr zeitliche Restkapazitäten vorhanden gewesen.

Bei dem nächsten Termin wurde verkündet, dass man das Textilgutachten tatsächlich zulasse. Für dessen Bewertung im Rahmen des Prozesses wurde sodann der nächste Verhandlungstermin veranschlagt. Damit die aktuelle Sitzung jedoch tatsächlich als eigenständiger Verhandlungstag gelten konnte, verlas man die Zeugenaussage eines Beamten aus der erstinstanzlichen Verhandlung.

Zum mittlerweile vierten Mal wurde nun Anfang April 2016 im Berufungsverfahren verhandelt. Kurz vor Sitzungsbeginn verdichteten sich die Zeichen, dass der Gutachter noch keine abschließende Bewertung vornehmen konnte. Die Notwendigkeit eines fünften Erscheinens vor Ende des Berufungsverfahrens erschien höchst wahrscheinlich. Mit Sitzungseröffnung bestätigte der Richter den Verzug der Gutachtenentstehung. Der Sachverständige habe noch nicht die richtige Videodatei vorliegen, die die unvermummte Person zeigt bzw. zeitlich zu knapp zugesendet bekommen und könne deswegen der aktuellen Sitzung nicht beiwohnen. Allerdings hätten Richter und Gutachter in den Tagen vor der Sitzung bereits telefonischen Kontakt gehabt, in dem angekündigt wurde, dass keine eindeutige Aussage über Übereinstimmung der Bekleidung auf den Bildern der Tat und dem Bild des Verdächtigen zu erwarten sei. Dennoch könne man wohl auch keine Nicht-Übereinstimmung belegen, so der Richter damals weiter. Ursächlich dürften hierfür die hohen Unterschiede in den technischen Details der polizeilichen Aufnahmegeräte und Verwertungstechniken sein. Diese können vor allem die farblichen Eigenschaften von Textilien auf Bildmaterial aus unterschiedlichen Quellen unterschiedlich erscheinen lassen, obwohl sie es nicht sind – oder eben umgekehrt. Die Verwertbarkeit in einem Prozess – also die Untermauerung von Tatvorwürfen anhand solcher Kleidungsmerkmale – bleibt somit wohl weniger einfach als es sich die Strafverfolgung hiermit gerne macht. Hierbei handelt es sich im Übrigen um einen Aspekt höchster Aktualität und Relevanz, wenn man an andere momentan verhandelte Fälle denkt.

Mit anderen Worten war zu erwarten, dass das Gutachten die Einschätzung der Kleidungsmerkmale objektiv nicht entscheidend ändern könnte. Die Einschätzung der Beweiskraft der Textilmerkmale würde dann einer sogenannten „Würdigung“ durch den Vorsitzenden Richter unterzogen. Diesem Umstand Rechnung tragend und um mindestens ein weiteres Erscheinen vor Ende des Berufungsverfahrens zu vermeiden, berieten sich Mirko und sein Verteidiger – nach vorheriger Anregung durch das Gericht – darüber, den Beweisantrag zurückzunehmen. In dieser Besprechung einigte man sich jedoch schnell darauf, genau das nicht zu tun. Die erwähnte Würdigung durch den Vorsitzenden Richter wäre nämlich einer der wenigen Ansatzpunkte in einem Revisionsverfahren, mit dessen Notwendigkeit man durchaus rechnen musste. Also verkündete die Verteidigung die Entscheidung, den Prozess fortführen zu wollen, was wenig launige Mienen verursachte. Auf direkte Nachfrage des Vorsitzenden Richters erläuterte die Verteidigung sodann den Beweggrund der Entscheidung – sich nämlich bereits für eine Revision zu wappnen. Indem das Verfahren unnötig in die Länge gezogen wurde (wie es unser Mitglied empfand), sollte möglicherweise eine Rücknahme des Beweisantrages provoziert werden. Nun herrschte jedoch Gewissheit, dass man auf Seiten der Verteidigung bis zum Ende kämpfen würde und sich schon mit der wiederum nächsten Instanz beschäftigte. Als man bereits einen neuen Termin absprechen wollte, ergriff der Staatsanwalt unerwarteterweise die Initiative. Er müsste „gewissermaßen sein Plädoyer vorwegnehmen“, als er feststellte, dass er ohne explizite Weiterbelastung durch das Textilgutachten und bei konsequent objektiver Beurteilung der Lage nun doch wohl oder übel auf Freispruch plädieren müsse (obwohl er den Angeklagten immer noch für vollkommen schuldig hielt, wie er weiterhin betonte). Da könne man die Sache doch tatsächlich abkürzen und nach Rücknahme des Beweisantrages würde er schon jetzt genau diesen Freispruch beantragen müssen. Da in der möglichen Revision ein solches Plädoyer der Staatsanwaltschaft ein deutlich größeres Pfund, als eine Würdigung eines „durchgeboxten“ Beweisantrages wäre, verzichtete die Verteidigung nun tatsächlich auf das Textilgutachten. Die folgenden Plädoyers forderten den Freispruch und der Richter zog sich mit den Schöffen zurück. Nach kurzer Zeit konnte dann verkündet werden, dass Mirko tatsächlich freigesprochen wurde! Unsere Einschätzung ist: Die Argumentation der Verteidigung musste als „zu nachvollziehbar“ betrachtet werden und die Gefahr, das eigene Urteil in der Revision kippen zu sehen, war dem Gericht zu hoch. Hätte man sich allerdings von der als solcher empfundenen Taktik des Gerichts dazu bringen lassen, den Beweisantrag vorzeitig zurückzunehmen, hätte unser Mitglied zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich kein solches Ergebnis zu verzeichnen gehabt, sondern eine noch längere Belastung.

Die Quintessenz von Mirkos Verfahren ist letztlich: Langer Atem zahlt sich aus!

Mögen Verurteilungen und Schuldsprüche trotz Unschuld oder wenig objektiver Verfahren noch so endgültig erscheinen und der Kampf dagegen auf den ersten Blick manchmal mit noch mehr Kosten und Mühen als ohnehin schon verbunden sein, so lohnt es sich aus unserer Sicht dennoch immer, dagegen vorzugehen oder sie einer Überprüfung zu unterziehen. Die Blau-Weiß-Rote Hilfe unterstützt ihre Mitglieder hierbei. Sei es durch Vermittlung von im Strafrecht und Fußballkontext erfahrenen Anwälten, bei denen ihr durch eine Mitgliedschaft in unserer Solidargemeinschaft zudem Rabatte erhaltet, fachliche und unentgeltliche Erstberatung oder finanzielle Unterstützung bei der Begleichung von Anwaltskosten.

In diesem Sinne: WERDET MITGLIED! Hansafans in Not – Euer Rettungsring ist Blau-Weiß-Rot!