Aussageschwache Zahlen statt Fakten

Vor Kurzem erschienen in der Ostsee-Zeitung Artikel mit den Aufmachern „Gewalt gegen Polizisten nirgends so enorm wie in MV: Früher flogen Beleidigungen, heute Steine“ und „BKA-Statistik zeigt starken Anstieg bei Gewalt gegen Polizisten in MV“. Diese bezogen sich auf den Bericht des Bundeskriminalamtes zum „Bundeslagebild Gewalt gegen die Polizei 2021“. Aus Sicht der Blau-Weiß-Roten Hilfe sind solche Artikel ein Paradebeispiel für eine falsche, verkürzte sowie tendenziöse Interpretation von veröffentlichten Zahlen aus polizeilichen Statistiken und bedürfen dringend einer sowohl rechtlichen als auch faktischen Einordnung, der sich hiermit angenähert werden soll. 

Wertungen aus behördlicher Mitteilung und Veröffentlichung wurden in diesen Artikeln nämlich nicht nur ungeprüft übernommen, sondern auch aufgebauscht. Dem journalistischen Sorgfaltsanspruch wurde in keiner Weise durch eine objektive Bewertung oder zumindest dem Einholen einer weiteren, womöglich auch kritischen Stimme Sorge getragen. Dem Anschein nach wurden die vom BKA veröffentlichten Statistiken offenbar gar nicht verstanden. Wenn etwa in einem Artikel der Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) Christian Schumacher zitiert wird, „Wo früher Beleidigungen flogen, fliegen heute Steine“, mag dies dessen persönliche, interessengeleitete Sichtweise sein. Sie lässt sich aber mit den Statistiken des BKA-Berichts nicht begründen. Auch eine angebliche Zunahme der Gewaltbereitschaft oder eine Verschärfung von Attacken gegenüber der Polizei, wie es die Ostseezeitung in ihren Artikeln suggeriert, lässt sich anhand der Zahlen nicht herleiten. Im Gegenteil, wie wir im Folgenden verdeutlichen.

Beim Lesen des Berichtes des BKA zu Straftaten gegen Polizeibeamte müssen zunächst aber vier Dinge grundsätzlich beachtet werden:

1.​ Die Zahlen sind der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) entnommen. Diese Statistik ist eine rein polizeiliche Statistik. Das heißt, um welche Straftat es sich bei dem angezeigten Geschehen handelt, ist zum Zeitpunkt der statistischen Erfassung von einem Polizeibeamten bewertet worden. Ob das, was geschehen ist, von Seiten der Staatsanwaltschaft und Gerichte rechtlich genauso bewertet wurde oder ob von Seiten ausgebildeter Juristen eine andere rechtliche Bewertung vorgenommen wurde, ist der Statistik nicht zu entnehmen. Das wird an dieser Stelle gar nicht erfasst. Korrekterweise müsste es also heißen, dass nach der PKS eine bestimmte Zahl von Strafverfahren wegen eines strafrechtlichen Vorwurfs eingeleitet wurde, nicht dass es eine bestimmte Zahl von Straftaten gab. 

2.​ Nicht nur die rechtliche Bewertung eines Geschehens liegt bei den Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik in der Hand von Polizeibeamten. Auch die Bewertung, ob überhaupt eine Anzeige gestellt wird. Ein Polizeibeamter entscheidet zum Beispiel selbst, ob nach einer etwas hitzigen Diskussion, in der auch übertriebene Bemerkungen gemacht wurden oder gestikuliert wurde, er diese ernst nimmt oder nicht. Ob dann ein Verhalten zum Beispiel als Bedrohung angezeigt wird oder nicht, ist eine individuelle Entscheidung. Demzufolge ist die Statistik dadurch beeinflusst, ob Polizeibeamte sich eher schnell oder eher zurückhaltend für eine Anzeige entscheiden. Das spielt nicht nur bei „bedrohlichen“ Aussagen eine Rolle, sondern auch beim Straftatbestand des § 114 StGB (tätlicher Angriff), wonach es schon strafbar sein kann, wenn jemand seine Hand gegen einen Beamten erhebt, ohne dass es dazu gekommen sein muss, dass zum Schlag angesetzt wurde, geschweige denn, dass der Schlag ausgeführt wurde. 

3.​ Die Auswahl der Straftaten, die von Seiten des BKA als „Gewalttaten“ klassifiziert wurden, hat mit dem Verständnis von „Gewalt“ im vom allgemeinen Sprachgebrauch der „Gewalt“ wenig zu tun. So sind z. B. auch die Straftatbestände „Nötigung“, „Bedrohung“, „Widerstand“ und „tätlicher Angriff“ Teil der Statistik für „Gewalttaten“, die aber alle rechtlich nicht zwingend voraussetzen, dass ein Beamter verletzt wurde oder auch nur versucht wurde, ihn zu verletzen.

4.​ Die Straftaten, die für Mecklenburg-Vorpommern gezählt wurden, sind im Vergleich zahlenmäßig gering (wenig überraschend, bei Berücksichtigung der Tatsache, dass nur 1,9 % der Bevölkerung Deutschlands in M-V wohnen). Bei geringen absoluten Zahlen ist die Aussagekraft einer Veränderung der Zahlen ebenso gering. Allein ein oder zwei Großereignisse können bei geringen absoluten Zahlen zu nominal größeren prozentualen Steigerungen führen. Es ist indes zweifelhaft, inwieweit ein Vergleich von Zahlen aus dem „Corona-Jahr“ 2020 mit Zahlen aus dem Jahr 2021 überhaupt sinnvolle Bewertungen zulässt. 

Selbst wenn aber aus den – mit äußerster Vorsicht zu betrachtenden – Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik Bewertungen abgeleitet werden sollen, ergibt sich zunächst, dass die jährlichen Zahlen für den Zeitraum 2019 bis 2021 bezüglich der Straftaten gegen Polizisten in Mecklenburg-Vorpommern starken Unstetigkeiten unterliegen. Nach der Statistik des BKA gab es im Jahr 2021 insgesamt 912 Strafverfahren wegen des Vorwurfs einer so genannten „Gewalt“-Tat gegen Polizisten. Im Jahre 2020 waren es 696 Fälle und im Jahre 2019 820 Fälle. Das ist innerhalb von drei Jahren eine enorme Schwankung der Zahlen in beide Richtungen. 

Mehr noch: Anhand der Zahlen zu den einzelnen Deliktsbereichen kann kein Anstieg von körperlicher Gewalt gegenüber Polizisten festgestellt werden. Von den 912 eingeleiteten Strafverfahren 2021 sind  nur 40 Fälle Tatvorwürfe im Bereich der Delikte von einfacher Körperverletzung bis Totschlag. 2019 waren es 104 Fälle in diesem Bereich. 2020 waren es 33. Betrachtet man die Zahlen zu den Fällen, in denen der Vorwurf des Landfriedensbruches zum Nachteil von Polizisten erfasst wurde, sieht es gar so aus, dass mit 13 Fällen im Jahre 2021 die geringste Zahl in den letzten fünf Jahren (2020: 25, 2019: 19, 2018: 25, 2017: 29) erreicht wurde. 

Mithin kann hieraus nicht objektiv geschlussfolgert werden, dass die Fälle, in denen es sich um Vorwürfe handelt, bei denen Polizisten einer konkreten Gefahr körperlicher Verletzung ausgesetzt sind – also denen einer Körperverletzung oder schwerer – merklich gestiegen sind. Im Gegenteil: Die überwiegende Anzahl der erfassten Fälle in der Statistik des Jahres 2021 waren Widerstandstaten (481), beziehungsweise „tätliche Angriffe“ (298) – insgesamt also 779 Fälle solcher Taten. Bei diesen Vorwürfen handelt es sich wie dargestellt in der Regel um ein Verhalten bei Festnahmen, ohne dass ein Körperverletzungsvorsatz vorgelegen haben muss. So zum Beispiel, das Wegziehen einer Hand, das Fallenlassen oder ein „Zappeln“ bei einer Festnahme. In diesem Bereich sind in der Polizeilichen Kriminalstatistik für das Jahr 2019 für Mecklenburg-Vorpommern 641 Fälle erfasst worden. 2020 waren es 601 Fälle. 

Rostock, den 20.10.2022